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Impuls zum 13. April 2025

Zum Palmsonntag

Von Ferdinand Kerstiens (Marl), pax christi Münster

Die Leidensgeschichten Jesu
Lk 22,14 – 23,56
Die Passionsgeschichte Jesu ist nicht Vergangenheit, sondern wie ein Spiegel unserer Zeit. Was uns vom Leiden Jesu erzählt wird, vollzieht sich auch heute vielfach mitten unter uns, auf unserer Einen Welt, Folter und Ermordung durch staatliche Organe, nur weil man den Mächtigen im Wege steht. Auch die Verhaltensweisen, mit denen die Menschen auf das Leid reagieren, sind damals und heute oft identisch. Die Leidensgeschichte Jesu geht weiter: „Was ihr für meine geringsten Schwestern und Brüder (nicht) getan habt, das habt ihr mir (nicht) getan.“ (Mt 25,40.45). Wie sind wir darin verwickelt?

Da sind die schlafenden Jünger: Ein Bild der schlafenden Christenheit, die Unrecht vielfach geschehen lässt, ohne es zu sehen oder sich davon beunruhigen zu lassen. Trauriges Beispiel: die sexuellen Verbrechen von kirchlichen Mitarbeitern an Kindern und Jugendlichen und ihre Vertuschung durch Bischöfe und Gemeinden. Für viele sind die Opfer weit weg. Wir sehen eben „fern“ und nicht „nah“. Aber auch das ferne Elend, das unsere Wirtschaft auf der weiten Welt hinterlässt, berührt viele gar nicht. Viele wollen die Opfer nicht sehen, schon gar nicht hier: Die Geflüchteten sollen remigriert werden. Sie passen nicht in unsere Kultur. Die Geschäftsleute in Rio lassen Straßenkinder ermorden, damit sie nicht mehr auf ihren Straßen betteln. Die Geschäftsleute schlafen ruhig. 

Da ist Judas mit den 30 Silberlingen. Die Korruption zersetzt heute vielfach Politik und Wirtschaft bis in die leitenden Positionen, Abgeordnete, Politiker. Da sind Menschen, die bestechen, und andere, die sich bestechen lassen. Wo geht Lobby-Arbeit in Korruption über? Wie ist das mit Parteispenden, insbesondere in Wahlzeiten? Und vielleicht geht das auch ohne Geld: wie muss ich den Mächtigen schmeicheln, um eine bessere Position zu bekommen?

Da sind Petrus und die anderen Jünger, die Jesus im Stich lassen, als es ernst wird. Wieviele Menschen werden in ihrer Not allein gelassen! Man wendet sich ab. Not isoliert. Mich lieber nicht einmischen! Ich könnte ja etwas mitbekommen. Kinder und Jugendliche, die überfallen und beraubt wurden, sagen oft: Das Schlimmste waren nicht die Schläge, sondern dass Erwachsene einfach vorbeigingen und sich um unser Schreien nicht gekümmert haben. Was habe ich auch zu tun mit dem Asylbewerber, der in sein unsicheres Heimatland zurücktransportiert werden soll und sich deswegen selbst das Leben nimmt? „Ich kenne den Menschen nicht“ sagt Petrus. Das Allein-gelassen-werden, die Einsamkeit breitet sich in unserer Zeit aus, sagen die Soziologen.

Da ist Josef von Arimathäa. Er verfolgt das Geschehen von Ferne. Auch die Frauen, die Jesus gefolgt waren, weichen nicht aus. Sie schauen wenigstens von Ferne zu. Sie können nicht von Jesus lassen. Als alles geschehen ist, kommen sie um zu helfen, Jesus zu begraben, wie die tapferen Witwen in Guatemala, in Chile, Argentinien und anderswo, die ihre ermordeten Männer und Söhne begraben und immer neu mit öffentlichen Protesten an sie erinnern, solange die Verbrechen nicht gesühnt sind. So die Witwen und Angehörigen der Geiseln und Kriegstoten auf beiden Seiten in Israel/Palästina, Ukraine/Russland. 

Simon von Cyrene hilft das Kreuz tragen, wenn auch nicht freiwillig. Auch solche Menschen gibt es - Gott sei Dank - heute. Das Kreuz tragen helfen: Das sind die vielfältigen Formen der Solidarität, mit der Menschen Menschen beistehen, sie nicht alleine lassen, ihre Würde wahren. Das sind die Helfer*innen in den Notgebieten unserer Welt wie z.B. die „Ärzte ohne Grenzen“, die oft ihr Leben einsetzen. Das ist Einladung an uns alle. Wir können einander ja auch freiwillig helfen, das Kreuz zu tragen, was immer es sei. Auch Spenden können Menschen helfen.

Aber da sind auch die Soldaten. Sie haben nichts anderes gelernt als Gewalt. Die Soldaten sind selbst arme Schweine, die nichts zu lachen haben. So lassen sie ihre Gewalt an denen aus, die noch schwächer sind. Schon Kinder werden zum Soldatendienst gezwungen und lernen das Töten. Wie sollen sie später das Leben lernen?  Folterknechte gibt es auch heute in vielen Ländern der Welt, mit denen wir gute Geschäfte machen. Aber was haben wir denn mit den Folteropfern oder den Folterern zu tun? Das vollzieht sich ja hinter verschlossenen Türen. Im Kleinen gibt es dies auch: Mobbing am Arbeitsplatz und in den Schulen, hochmütiges Gerede über die Asylanten, die Arbeitslosen, die nicht arbeiten wollen, die Penner, jeweils über die Schwächeren. Wer von uns ist da nicht irgendwie beteiligt?

Der Hauptmann am Kreuz lässt sich von dem Geschehen bewegen. Sein Herz ist noch nicht aus Stein. Solche Menschen gibt es auch heute, die vom Leiden Unschuldiger bekehrt werden. „Alle Menschen, die zu diesem Schauspiel herbeigeströmt waren und sahen, was sich ereignet hatte, schlugen sich an die Brust und kehrten zurück.“ (Lk 23,48) Das kann also geschehen, dass Zuschauer sich betreffen lassen. Aber das ist nicht die Regel. Hilfskräfte, Feuerwehrleute, Polizisten beklagen sich darüber, dass sie in ihrer Arbeit beschimpft werden und sich gegen Menschen wehren müssen, die das Elend, die Opfer, nur fotografieren wollen. Das ist für Voyeure ein Event, sagt man heute, das sie anzieht, ihnen vielleicht ein Kribbeln verursacht, aber sonst kaltlässt.

Die Masse kann grausam sein, wenn sie hochgepuscht wird. Wir brauchen uns nur an die Nazizeit zu erinnern. „Wollt ihr den totalen Krieg?“ „Wir wollen ihn!“ brüllt die Masse. Auch das kann schon im kleinen Kreis oder am Arbeitsplatz beginnen. „Ans Kreuz mit ihm!“ Wenigstens: „Ab in die Heimat.“ Die rechtsradikalen Parolen haben ein vielfältiges Echo bis in bürgerliche und kirchliche Kreise hinein. Der Wahlkampf bot dafür viele Beispiele. Doch schauen wir genau hin: Es waren nicht die Juden, die den Tod Jesu forderten, sondern die, die sich von den Hohenpriestern zusammenrufen ließen, also die Diener der Macht, und vielleicht zufällige Passanten, die etwas erleben wollten, ebenso wenig wie es die Deutschen waren, die den totalen Krieg forderten. Auch heute sind es nicht die Juden oder die Palästinenser, die Russen oder die Amerikaner, die Flüchtlinge. Aber aufgeheizte Massen sind zu allem fähig.

Dann sind da die Vertreter der religiösen und gesellschaftlichen Macht, die Hohenpriester, der hohe Rat und Herodes. Sie wollen den lästigen Kritiker Jesus loswerden. So werden heute vielfach Männer und Frauen, Gewerkschaftler, Menschenrechtler, Journalisten, Christen bedroht und oft beseitigt, wie auch immer. Im Grunde geschieht das gleiche überall dort, wo die vorhandene Ordnung auf Kosten von Menschen durchgesetzt wird. „Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben.“ Alle Machtsysteme haben ihre Hohenpriester, die alle Opfer rechtfertigen. Der Vater von Elon Musk sagt zu seinem Sohn: „Du darfst kein Mitleid haben mit den Verlierern!“ Da ist der russische Patriarch Kyrill, da sind religiöse Extremisten in den USA. Oft wird die Religion benutzt, um Konflikte zu rechtfertigen oder gar zu brutalisieren. Hinter jedem Moslem wird ein Islamist vermutet, der auf Gewalt aus ist. Aber auch unsere Wirtschaft hat viele Gesetze, nach denen Menschen sterben müssen, weil sie im gegenwärtigen System keine Chance haben. Es gibt „hohe Räte“, die Todesurteile aussprechen, stillschweigend oder auch öffentlich. Es gibt immer noch Staaten, die die Todesstrafe kennen, mit der tödlichen Giftspritze oder durch Steinigung. 

Und da ist Pilatus.  Er will sich die Hände nicht schmutzig machen. Er ist ärgerlich, dass er da überhaupt mit reingezogen wird. Allzuviel Engagement bringt er nicht auf, um Jesus zu retten. Er geht den Weg des geringsten Widerstands, auch wenn ein Unschuldiger zum Opfer wird. Pilatus und Herodes verbrüdern sich. Diktatoren verstehen sich untereinander. Hat die Ukraine zwischen Trump und Putin eine Chance zum Überleben? Das gilt nicht nur für die da oben, das gilt schon für die, die das Sagen haben in der kleinen Clique, im Kegelklub oder am Stammtisch, Verbrüderung auf Kosten der Opfer, die man gemeinsam ausschaltet.
Die Leidensgeschichte Jesu - die Leidensgeschichte unserer Tage. Von welchen der verschiedenen Rollen finden wir etwas in uns selber wieder? Wo sind wir an der Leidensgeschichte unserer Tage beteiligt? Lebt auch etwas von Jesus in uns? Er hat ein gutes Wort für die Frauen. Er bittet für die Täter um Vergebung. Er hat ein offenes Ohr für den Verbrecher an seiner Seite, das Mitopfer. Er, der Leidende, das Opfer, hat ein offenes Auge und Ohr für die Menschen um ihn herum. Der Leidende ist ein Mitleidender. Er betet für seine Peiniger. Mitten in der Isolierung, gleichsam im Zentrum des Wirbelsturmes, geht er seinen Weg bis hin zu seinem letzten Wort in der Lukaspassion: „Vater, in deine Hände gebe ich mein Leben.“ So sind manche Juden in Auschwitz gestorben, Opfer der Nazis in Plötzensee und anderswo, so auch heute viele Menschen, die sich für die Opfer von Gewalt einsetzen.

Auf all das deutet schon die heutige Vorgeschichte der Passion: der Einzug Jesu auf dem Esel, dem Lasttier der Armen, die herzliche Begrüßung durch die Menschen am Wege. All das feiert Jesus mit den Deuteworten über Brot und Wein in seinem letzten Mahl mit den Seinen. So werden auch wir in der Feier der Eucharistie mit in seine Leidensgeschichte einbezogen. So lesen und hören wir die Leidensgeschichte Jesu nur richtig, wenn wir wahrnehmen, wie wir immer schon verwickelt sind in die Leidensgeschichte unserer Tage, in welcher Rolle auch immer. Nur dann kann die Leidensgeschichte Jesu uns verändern. Nur dann können auch die Leidenden unserer Tage aufatmen, weil sie spüren, dass sie nicht alleine sind. So kann auch die Leidensgeschichte Jesu zur frohen Botschaft werden, zur Orientierung und Deutung unseres Lebens nicht ohne österliche Hoffnung.

Gebet
Gott aller Menschen,
wie oft stehen wir wie unbeteiligt
am Rande der Leidensgeschichte unserer Tage,
als bloße Zuschauer, als Passanten.
Aber wir sind längst hineinverwickelt, 
als Opfer, Nutznießer oder Täter. 
Hilf uns, solidarisch zu werden mit den Opfern,
ihnen aktiv beizustehen,
ihre Situation zu verändern,
das Joch zu brechen, das sie niederdrückt.
Dann werden die Opfer aufstehen können
mitten in ihrer Bedrängnis.
Bekehre die Mächtigen, 
dass sie nicht weiter Opfer produzieren,
sondern ihre Macht einsetzen für das Leben der Menschen,
aller Menschen, der Bedrohten und Schwachen zuerst.
Lass die Leidensgeschichte Jesu nicht vergebens sein!
Nur zusammen können wir überleben.
So bitten wir mit Jesus, unserem Bruder, 
der in unserer Mitte lebt und wirkt,
Tag für Tag, in Zeit und Ewigkeit.
Amen